Hübsch ist nicht gleich brauchbar und brauchbar selten fancy
User interfaces jenseits der Entwicklung
Beim Entwurf von interfaces für Maschinen oder Programme – meist in der Form von APIs – gibt es viele harte Regeln und etablierte Konventionen, die es einfacher machen, konforme, brauchbare und „schöne“ Kontaktflächen zu erschaffen. Den Konsumenten, also zum Beispiel eine App, welche die API konsumiert, interessiert es aber wenig, wie hübsch das interface ist.
Für den Entwurf eines user interface (UI) gäbe es zwar eine Myriade an Regeln, ihnen fehlen jedoch die Härte, also sagen wir besser Empfehlungen dazu. Zusätzlich bewegen sich UIs als Kontaktfläche zwischen Mensch und Idee im Bereich subjektiver Wahrnehmung und emotionaler Interpretationen. Gibt es bei APIs einen funktionellen Zwang zur Konformität, so sind Menschen im Kontrast dazu hervorragend in der Lage auch die schlechteste UI jahrelang zu bedienen und dabei ihrer Unzufriedenheit entweder mit Kotz-Smileys und/oder bösen Social Media Posts Ausdruck zu verleihen.
Viele Iterationen – Schritte wie auch Rückschritte – braucht es, bis eine UI das bedienbare Licht der Welt erblickt. In den meisten Fällen gibt es schon Prototypen bevor sich überhaupt irgend jemand Gedanken über die Geschäftslogik gemacht hat, deswegen ist der Anfang jeder UI immer fancy. Es will und darf geträumt werden. Manchmal ist alles sehr, sehr bunt, manchmal alles in Graustufen, um keine Farbfestlegung zu suggerieren.
Nachdem es keine passend ausgebildeten Gesprächstherapeuten für Devs und Designer gibt, unterliegen jene manchmal der Feigheit und schlagen sich nicht mit einer tiefergehenden Farb- oder gar Formwahl herum, denn die emotionalen Hochs und Tiefs zwischen Kontrast-Checker, „Ausdruck“ und Kundenbauchgefühl kosten mehrere Pakete an Nerven, die durch oben erwähnte Social Media Posts schon ausgedünnt wurden. Deswegen gibt es nach dem elften Gebot („Du sollst dich nicht täuschen“) auch das Zwölfte: „Du sollst kein User Feedback lesen“. Dafür gibt es eigene Abteilungen, heißt es.
Dass nach fancy immer die mehrstufige Ernüchterung kommt, ist Gesetz, so wie jedes Jahr ein neuer UI-Hype ausbricht, der realitätsfern ist. Die erste Stufe der Ernüchterung beginnt damit, dass ein statisches Design im Prototypen (click dummy) reizend für den Betrachter wirkt, allerdings reizend im Sinne des Gefahrenzettels der Klasse 8. Wenn auf jeder Seite der App der selbe fancy Button angezeigt wird, ist dieser schnell ätzend und zersetzt das übrige Design. Je länger die Entwicklung eines Produkts dauert, desto länger wird die Liste an (schlechten) Scherzen über das Design. UI fatigue existiert und führt zu radikalen Redesigns mitten in der Entwicklung.
Eine weitere Stufe der Ernüchterung hat strukturelle Gründe, die in der Ausrichtung der Devs oder des Unternehmens begründet liegen. Man stelle sich vor, es gäbe einen tollen click dummy. Man stelle sich den (unwahrscheinlichen) Fall vor, das Design hätte Eingabevalidatoren und Fehlermeldungen berücksichtigt, auf konsistente Abstände wirklich überall geachtet und den Prototypen nicht mit irrationalen Animationen gepflastert wie ein Dev-Minenfeld (weil das Design-Tool es kann und es cool aussieht). Man stelle sich also ein abgerundetes, vollständiges Design vor, das auch wirklich mit realistischem Ressourceneinsatz implementierbar ist.
Dieses Design trifft zum Beispiel auf Devs einer nativen App. Schnell kommen die Android- und iOS-Devs angelaufen und überbieten sich gegenseitig damit, was sie denn alles an Betriebssystemstandards über Bord werfen mussten, um Button X und Eingabefeld Y umzusetzen, wie Inkonsistenzen zwischen den Plattformen ausgebügelt werden können und wie teuer dieses Projekt schon wieder wird, weil sie das Rad gleich mehrfach neu erfinden müssen. Das Design bröselt. Die user experience driftet schon bei den einfachsten Dingen auseinander. Die App sieht neben anderen Apps der selben Plattform wie ein Alien aus. iOS-User beschweren sich über Android-Verhaltensweisen und umgekehrt. Da der Mensch aus alten Fehlern nicht lernt, entbrennt die Diskussion, warum schon wieder ein Design gemacht wurde. Jede folgende Begründung beginnt dann entweder mit „Aber der Kunde ...“ oder enthält die Worte „zu lange“ und „zu teuer“.
Über einige der oben genannten Aspekte mögen Web- und Hybrid-Devs zwar lächeln, das Verheiraten eines Designs mit einem UI-Framework mit Rücksicht auf Barrierefreiheit ist selten ein Spaß und das Feld gesät mit Abstrichen und händeringenden Argumentationen warum man es nun anders machen muss, als geplant.
Spätestens mit der Lokalisierung eines Produkts zerfällt jede UI. In. Viele. Einzel. Teile. ... auf dem Boden.
Lokalisierung (in mehr als zwei Sprachen) kommt generell sehr spät in der Entwicklung und es gäbe hier Sprachen, die den Begriff „zusammengesetzte Hauptwörter“ nicht im Wörterbuch finden und zweizeilige Sätze als Ersatz anbieten. Nicht, dass Buttons mit abgeteilten Worten auch nur annähernd hübsch oder brauchbar sind, so muss es einen Grund geben, warum es in der UI-Entwicklung für jedes kleine Rädchen im Prozess eigene Berufsbezeichnungen gibt und warum micro copy writer dabei vorkommt.
Sollte eine UI nicht bereits durch Lokalisierung, Eingabevalidatoren und deren Fehlermeldungen, Betriebssystembesonderheiten, Barrierefreiheit oder micro interactions zu Fall gebracht worden sein, gibt es immer noch Zeit und User, die dies erledigen. Jede fancy UI konvergiert über die Zeit zu Standardkomponenten und Standardverhalten. Nur Mainstream-Freizeit-Apps können es sich leisten, vollständig obskure Menüführungen und nichtssagende Icons für wichtige Funktionen zu wählen. Kleine Projekte – also alle anderen – können es sich nicht erlauben bei etablierten Bedienungsmustern und erwarteter Optik aus der Reihe zu tanzen, auch wenn „etabliert“ in diesem Zusammenhang einen Zeithorizont von vielleicht zwei oder drei Jahren hat. So viel zu zeitlosem Design.
Brauchbar ist selten fancy, auch wenn diese Erkenntnis den Ästheten in mir zum Weinen auf einen bemoosten Stein schickt, eine warme Zufriedenheit erfüllt mich allerdings, wenn ich nach Monaten wieder zu einer UI zurückkehre und feststelle, dass sie immer noch brauchbar ist, weil ich die Buttons dort suche, wo sie sind, die Signalfarben noch wirken, die Fehlermeldungen auch dann aussagekräftig sind, wenn man nicht mehr weiß, was die Fehlerquelle sein könnte und 3000 Datensätze filtern, sortieren und Einträge bearbeiten sich wie erwartet verhalten. Geschäftssoftware. Fast schon langweilig, wenn alles funktioniert.
Dies bringt mich zu einer Stelle, an der fancy besonders verloren geht. Der Graben zwischen Freizeit-Apps und Geschäftsanwendungen ist sehr tief. Letztere haben den Ruf – in der Realität begründet – eine eigene Stelle des customer success managers zu benötigen, der dafür sorgt, dass der Kunde mit dem Kauf der Software zufrieden ist/wird/bleibt, sie bedienen kann/möchte und weiterhin brav die Subscription zahlt. Der schmale Grad für UI-Innovationen im Geschäftssoftwarebereich ist eigentlich so schmal, dass man bei jedem Versuch nur abrutschen kann. Gleichzeitig will man sowohl im Design als auch in der Entwicklung möglichst weit weg vom zweifelhaften Charme der Datenbank- und Tabellenkalkulationsoptik des letzten Jahrtausends.
Vielleicht wirkt dieser Graben zwischen Geschäft- und Freizeitsoftware auch deswegen so bizarr, weil er nicht nur das Berufliche vom Lifestyle, sondern mit der Entstehungsgeschichte von Software gleichzeitig die User-Generationen trennt. Jene, die das erste Internet sowie die ersten Mobiltelefone miterlebt haben von jenen, die mit Touch-Screens aufgewachsen sind. fancy ist nicht „inklusiv“, wenn eine UI für möglichst viele Altersgruppen relevant sein soll. Mittlerweile hat Software keine Nische mehr, sondern ist von 1 bis 100 Jahren.
Software ist überall und Menschen von überall bedienen diese. Es wird immer einen Teil der User geben, dem die Farben oder Formen missfallen, daran lässt sich kaum etwas ändern. Was wir besser machen können ist teuer, doch lohnend: An möglichst viele, unterschiedliche User denken, wenn wir versuchen, etwas zu kreieren, das ihr Leben bereichert.
Es kann das eine oder andere fancy! dabei auf der Strecke bleiben, aber wenn das nächste Mal eine UI wenig hergibt, dann hilft vielleicht dieses Bild: fancy user interfaces sind wie Konzeptautos. Von Letzteren wissen wir, dass sie in dieser Form niemals auf die Straße kommen.